Über Meditation

Frage: Hat Meditation dein Leben verändert?

Dr. Schmale:
Es geht nicht darum, sich zu verändern, sondern sich zu erkennen und zu sein. Wie aber erschaffen wir ein Klima, in dem Selbsterkenntnis möglich wird? Verurteilen wir das, was wir erkennen, wird möglicherweise Scham oder das Gefühl der Minderwertigkeit entstehen und der Erkenntnisprozess wird dadurch zumindest schwierig, vielleicht sogar unmöglich gemacht. Auch Lob und Ehrungen, allzu ernst genommen, können die Qualität von Erkenntnisblockaden gewinnen. Davon wissende Menschen lehnen deshalb Ehrungen und Preise ab, auch Nobelpreise. Die Methodik der Meditation, Körper, Gefühle und den Verstand zu beobachten, ohne zu beurteilen und zu werten, wie OSHO sie uns nahe gebracht hat, ist der ideale Weg, ein Klima entstehen zu lassen, in dem Erkenntnis der psychologischen Muster und Verhaltensweisen gedeihen kann, aus denen heraus wir ansonsten gewohnheitsmäßig vorhersehbar agieren. Wie oft nehmen wir uns vor, nie wieder so zu handeln – und tun es doch, wieder und wieder. Akzeptieren vermag die Flut der Gedanken beruhigen, die aus den Mustern entstehen, Stille kehrt ein, Meditation kann passieren.
Das eigene Verhalten nicht zu beurteilen und zu werten (choiceless awareness) ist eine bewusst eingesetzte Entscheidung, um Meditation entstehen zu lassen. Meditation beschreibt den Zustand, die Wirklichkeit direkt und klar aus einem Raum der Stille wahrzunehmen, unverzerrt und ungefärbt durch die Einmischung der emotionalen Vergangenheit. Üblicherweise reagieren wir vorhersagbar wie programmierte Roboter, wobei unsere Erlebnisse und die der Vergangenheit der gesamten Menschheit die Programme darstellen. Dies ist jedenfalls meine Erfahrung.

Wenn ich meinen Patienten Meditationstechniken empfehle, sage ich Ihnen nicht: Durch das Praktizieren werdet Ihr bessere Menschen, also ruhiger, konzentrierter, effektiver, liebevoller, demütiger, …. – sondern: Meditationstechniken vermögen eine einladende Geste zu gestalten, so dass ein ruhender Pol in uns erscheinen und Meditation passieren kann, auch wenn das Getöse der Welt so weitergeht wie eh und je.

 

Frage: Aber wenn du diesen ruhenden Pol in dir findest, ist das doch eine Veränderung?

Dr. Schmale:
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird unter Veränderung meist verstanden, dass wir unsere Qualitäten verändern, indem wir z. B. ruhiger oder resistenter gegen Stress werden. Da gibt es also Eigenschaften, die man „hat“ oder nicht hat, aber gerne hätte. Erich Fromm hat uns in seinem Buch „Haben oder Sein“ nahe gelegt, vom „Haben“ Abstand zu nehmen und in das „Sein“ zu wechseln. Der ruhende Pol ermöglicht genau das. Betreten wir eine Blumenwiese und lassen uns vom „Haben“ leiten, fühlen wir uns versucht, die Blumen abzuschneiden, um sie nun zu besitzen und mit nach Hause nehmen zu können. Die andere Möglichkeit besteht darin, einfach auf der Wiese zu sein, uns an den Blumen zu erfreuen und auch sie sein zu lassen. Meditation vermag uns einen Zugang zum Sein zu ebnen. Möglicherweise wird jeder, der meditiert, bei sich veränderte oder sogar neue Qualitäten entdecken, die vorher nicht da waren. Aber sobald man diese Blüten der Meditation abschneidet, sie in eine Vase stellt und sagt: „Guck mal, welch tolle Blüten sich entwickelt haben“ – sind wir aus dem Sein herausgefallen. Wir haben ein neues Muster etabliert, die Summe der psychologischen Muster (Ego) aufgebläht und der Weg zur Stille wird durch die Errungenschaften und ‚tollen’ Eigenschaften noch unwegsamer. Ich muss da immer an die herrliche Szene aus dem Film „Leben des Brian“ denken: Da sitzt der Meditierer in seiner Kuhle und Brian springt ihm auf die Füße. Da schreit er Brian an: „Du Arschloch! 20 Jahre habe ich hier gesessen, war ruhig, friedlich und still. Nun bin ich wütend und habe sogar wieder gesprochen. 20 Jahre habe ich mich bemüht und gequält. Du hast alles zerstört, was ich erreicht hatte!“

 

Frage: Wie wichtig ist für dich das tägliche Meditieren?

Dr. Schmale:
„Choiceless awareness“ praktiziere ich den ganzen Tag über. Wird mir bewusst, dass ich ins routinemäßige unbewußte Roboterverhalten gefallen bin, meine Gedanken und Taten aus meiner psychologischen Vergangenheit resultieren, bemerke ich also meine Unaufmerksamkeit, ist sofort wieder die Freude über das kleine Erwachen in die Bewusstheit präsent. Das Bemerken der Unachtsamkeit ist Achtsamkeit und kein Grund, sich nun wegen der Unachtsamkeit zu geißeln! Der Meditierer aus dem Film ,,Leben des Brian’’ hätte also fortfahren können: ,,Danke, Brian, dass du mich aus meiner Illusion, ich wäre die Friedfertigkeit persönlich geworden, sehr effektiv erweckt hast. Unschwer konnte ich erkennen, dass ich ähnlich wie früher wütend reagiert habe.’’ Diese Episode lässt wunderbar erkennen, wie wichtig es für unsere Selbsterkenntnis ist, in Beziehung zu unseren Mitmenschen zu leben.

 

Frage: Was passiert, wenn dich Leute nerven?

Dr. Schmale:
Ich wohne am Brüsseler Platz, wo sich manchmal tausend und mehr Menschen bis weit nach Mitternacht mit einer Flasche Bier in der Hand darüber hinwegsetzen, dass ihre Mitmenschen, die dort wohnen, schlafen möchten. Genervtheit, Wut, Haß, Neid, Trauer, Eifersucht, Enttäuschung, ich spüre, daß ich all dies sein kann. Aber indem ich es zulasse und mit allen Fasern bin, leben sie sich im Moment des Geschehens aus und beeinflussen weniger oder nicht das Erleben des nächsten. Meine Erfahrung ist, dass aus der Begegnung der unvoreingenommenen Aufmerksamkeit mit der Gegenwart oft eine spontane Tat entsteht, die keinesfalls flach und impotent ist und damit den Mainstreamvorstellungen über das Verhalten eines meditierenden, spirituellen Suchers nicht entspricht. Christen haben oft Schwierigkeiten, sich den friedliebenden Jesus die Peitsche schwingend und die Geldwechsler aus dem Tempelareal vertreibend vorzustellen. Ich habe diese Schwierigkeit nicht.

Es ist jedes Mal ein kleines Wunder, wenn durch Meditation ein tieferes Verständnis von mir selbst und der Existenz erblüht und Dankbarkeit entsteht – für jede Sekunde des Lebens, das wir unverdient geschenkt bekommen haben.

Quellen:
Osho, ‚Meditation – The First and Last Freedom‘, in deutscher Übersetzung ‚Meditation – Die erste und letzte Freiheit‘
J. Krishnamurti ‚Freedom from the known‘, in deutscher Übersetzung erschienen unter dem Titel ‚Einbruch in die Freiheit‘
Ramana Maharshi ‚Who am I?‘