Über das Sterben

Frage: Als Arzt wirst du immer wieder auch mit Sterben und Tod konfrontiert. Was hat deinen Umgang mit dem Thema geprägt?

Dr. Schmale: Mich hat vor allem meine Kindheit und Jugend geprägt, denn bei uns war es damals noch üblich, dass die Verwandten zuhause starben.
Beim Schlaganfall meiner Großmutter wurde ich Zeuge, wie sie im Bett lag und immer wieder röchelnd um Luft rang – liebevoll umsorgt von ihren Töchtern und meiner Mutter. Ich durfte jederzeit zu ihr. Zwischendurch schlief sie mal friedlich – bis dann wieder die Atemnot kam. Als sie irgendwann ihr Bewusstsein verlor, war das vollkommen neu für mich. Und eines Tages war sie dann tot. Bei ihr habe ich erlebt, wie kämpferisch und qualvoll das Sterben sein kann.

Einige Jahre später starb ihr Mann. Da muss ich 19 Jahre gewesen sein. Mein Großvater war ein imposanter Schmied, der ganz in seiner Arbeit aufging. Sein Handwerk machte ihm große Freude, und so hat er noch mit 85 Jahren gearbeitet, bis kurz vor seinen Tod. Zwei Tage vor meinem Geburtstag sagte er zu mir: „Ich geb Dir mein Geburtstagsgeschenk besser schon jetzt, denn ich werde sterben.“
Fassungslos erwiderte ich: „Das kann doch nicht sein – du bist doch gesund!“ Dabei war mir aufgefallen, dass seine Kräfte in letzter Zeit nachgelassen hatten. Und als er in seiner Werkstatt seinen Vorschlaghammer nicht mehr über den Kopf heben konnte, war er zum ersten Mal zum Arzt gegangen. Aber deswegen gleich sterben!?
„Ich möchte nicht, dass du stirbst,“ protestierte ich. „Und woher weißt Du das überhaupt?“
Da sah er mich an und sagte: „Weil ich es weiß!“ Tatsächlich starb er dann zwei Tage nach meinem Geburtstag – mitten im Frühling!
Als ich sein Zimmer betrat, lag er ausgesprochen friedlich im Bett. Die Leichenstarre hatte schon eingesetzt; offenbar war er mitten in der Nacht gestorben. Vorsichtig ergriff ich seine kalte Hand und berührte seine Wangen. Ohne jede Angst, aber verständnislos: Hatte ich doch noch vor kurzem mit ihm gesprochen!
Mein Großvater ist nie in die Kirche gegangen – das fand er überflüssig, ja schädlich. Ob er keine Angst vor dem Tod habe, hatte ich ihn bei dem erwähnten Gespräch gefragt.
„Warum sollte ich Angst haben?“, gab er zurück. „Ich habe mich stets richtig verhalten und brauche mir nichts vorzuwerfen.“
Da hatte er Recht: Er hat immer gründliche Arbeit geliefert und niemanden übers Ohr gehauen.
Und da er nicht gläubig war, spekulierte er noch: „Und falls nach dem Tod doch noch was kommt, was kann mir schon passieren? Wer sollte mir etwas vorwerfen?“
Mein Großvater starb vollkommen angstfrei und ohne Todeskampf.
Lange Zeit blieb ich neben ihm sitzen, musste ihn immer wieder ansehen und mich fragen: „Wo er jetzt wohl ist?“
Dieses Erlebnis war prägend für mein weiteres Leben.

 

Frage: Du hast damals offenbar begriffen, dass es keineswegs nur die tiefgläubigen Menschen sind, die kein Problem mit dem Tod haben?

Dr.Schmale: Vor allem habe ich begriffen, wie fragwürdig unsere spirituellen Raster und Vorurteile sind – etwa dass nur spirituelle oder gläubige Leute leichter loslassen können.
Kürzlich ist mein Vater gestorben – der oberflächlich betrachtet genauso unspirituell wie sein Vater erschien. Immer wenn ich ihm von Osho erzählte, hat er milde lächelnd zugehört. Dann aber verriet er mir zwei Tage vor seinem Tod: „Ich habe geträumt, wir wären gestorben. Und es war so schön!“
WIR?! Wir hatten uns einander zwar längst wieder genähert; doch dass „wir gemeinsam gestorben wären“, empfand ich denn doch zu weit gehend.
„Und wie war das – zu sterben?“, hakte ich nach. Und was sagte daraufhin dieser Mann, den ich für vollkommen „unspirituell“ hielt: „Ganz einfach – das war so: Pffff…“ Gleichzeitig legte er seine Hand auf das dritte Auge – von dessen Symbolik er bestimmt nichts wusste – und beschrieb mit ihr einen hohen Bogen nach oben! So also war das für ihn: Kinderleicht und absolut angstfrei.

„Und dann?“, fragte ich ihn. Er schloss ein Weile die Augen, schlug sie dann wieder auf und sagte: „Wenn einer eine Reise tut, dann kann er viel erzählen…“ Dann machte er wieder eine Pause. „Und wenn er dann wiederkommen würde, hätte er noch mehr zu erzählen…“ und schmunzelte mir zu. Er hatte einen verschmitzten Humor und wusste sehr wohl, wie begierig ich auf dieses viel mehr war…
Kurz darauf ist er dann tatsächlich gestorben. Als ich ihn aufgebahrt sah, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus: Was für ein beglücktes Lächeln auf seinem Gesicht – und was für ein Licht!
Da stirbt mein ,,unspiritueller’’ Vater vor meinen Augen – und strahlt eine Aura äußerster Zufriedenheit aus! Kein Zweifel, er hatte etwas Wunderbares erlebt, das bewies sein Gesicht. Wie – und so einer will nie Meditation erfahren haben?!? Eine sehr heilsame Erfahrung für mich – und zugleich sein Abschiedsgeschenk.

 

Frage: Wir hören ja oft den Satz: „Der Mensch stirbt so, wie er gelebt hat.“ Stimmt dieser Satz für dich?

Dr. Schmale: Ich glaub schon, dass an diesem Satz etwas dran ist. Kommt freilich ganz drauf an, wie man ihn versteht. Wir neigen ja dazu, alles zu moralisieren. Wer ihn so versteht, dass jemand, der in unseren Augen „gut“ lebt, dann irgendwann auch „gut“ stirbt, ist sicher auf dem Holzweg.
Was aber meinen Vater betrifft: Er hatte offenbar „gut“ gelebt, denn sein Antlitz zeigte, dass er gut gestorben war. Im Nachhinein erscheint mir sein Leben in einem ganz anderen Licht.

 

Frage: Deinen Großvater hast du so geschildert, dass er das gelebt hat, was er liebte. Kannst du das auch von deinem Vater behaupten?

Dr. Schmale: Nein. Denn er war durchaus nicht mit all seinem Tun und Lassen einverstanden. Eigentlich wollte er Ingenieur werden, aber das hatte der Krieg vereitelt, also wurde er ebenfalls Schmied, wie mein Großvater. Und im Krieg muss er ganz schlimme Dinge erlebt haben – wie oft hat er mir davon erzählt! Das Leben meines Großvaters aber war authentisch, wie wir Sannyasins gern sagen. Doch erst ganz zum Schluß geschah es, dass ich das Wesen meines Vaters hinter der Persönlichkeit empfand. Das hat mich tief berührt und gleichzeitig erschüttert. Wie hatte ich das bislang nur übersehen können? Wieso hatte ich mich eine Zeit lang an seiner persona, seiner äußeren Persönlichkeit abgearbeitet und gerieben? Das hat anfangs tief geschmerzt – hat sich aber sehr schnell zu großer Freude gewandelt – einem Glücksgefühl darüber, dass ich am Ende doch noch sein wahres Wesen schauen durfte. Was tut’s, dass es gedauert hat…

 

Frage: Hat sich deine Einstellung zu Sterben und Tod durch Osho verändert?

Dr. Schmale: Sicher. Vor allem hat er mich immer wieder mit der Nase darauf gestoßen, daß die persona nicht überlebt – auch wenn es durchaus etwas gibt, das bleibt. Als ich Osho zum ersten Mal sah, kam er mir vor wie jemand, in dem etwas nicht vorhanden war, das ich bisher bei jeder Begegnung mit anderen wahrgenommen hatte. Als er mir Sannyas gab und ich in seine Augen schaute, war mir, als fiele ich in ein tiefes Loch – ins Nichts.
Was also bleibt? Offensichtlich nicht die Person. Seither ist mein Leben zu einer permanenten Who-Am-I?-Gruppe geworden: Was genau bleibt? Was fällt weg? Beim Anblick meines toten Vaters fragte ich mich: „Sehe ich da die Reflektion von dem, was bleibt?“

Eine ähnlich starke Erfahrung war für mich auch der Tod jener an Krebs leidenden Frau, die wir damals in die Kölner Kommune aufgenommen hatten, um sie bis zum Tod zu pflegen und zu begleiten. Als ihr Arzt habe ich sie auch schmerztherapeutisch betreut. Als ich eines Abends in ihr Zimmer kam, um ihr eine Injektion zu geben, spürte ich: „Etwas ist anders als sonst.” Da war eine immense Präsenz im Raum. Also habe mich zu ihr gesetzt und die Spritze weggelegt. Auch ihr Atem ging ganz anders, war irgendwie kämpferisch geworden – so, wie ich es oft bei Sterbenden erlebt hatte. Nach und nach atmete sie immer ruhiger und schließlich ganz flach. Dann atmete sie aus — und nicht wieder ein! Um sie herum war eine enorme Dichte. Seither weiß ich: „Irgendetwas verlässt in dem Moment des Sterbens den Körper – das mit Händen zu greifen ist: Ja, es gibt etwas, das bleibt!” Nie wieder habe ich das mit dieser Deutlichkeit gespürt.

 

Frage: Viele Sannyasins haben sich intensiv mit dem Tod auseinandergesetzt. Glaubst Du, dass ihnen diese Auseinandersetzung beim eigenen Sterben zugute kommt?

Dr. Schmale: Ich glaube, es ist hilfreich, sich von allen Vorstellungen vom Sterben zu befreien. Dazu fällt mir ein, wie es Elisabeth Kübler-Ross erging, der Pionierin der Sterbebegleitung. Das hat mir eine Patientin erzählt, die anderthalb Jahre lang den Sterbeprozess von Frau Kübler-Ross selber begleitet hat. Diese hatte nach mehreren Schlaganfällen endlich sterben wollen, was ihr aber nicht gelang. Völlig verzweifelt habe sich ihr ganzes Leben nur noch um dieses Nichtsterbenkönnen gedreht. Zahllosen Menschen hatte sie beim Sterben beigestanden – und jetzt musste sie erleben, dass all ihr Können bei ihr selbst nicht anschlug! Dass all ihre Konzepte einengende Gedankengebäude sein können.
Und das kann uns Sannyasins genauso passieren wie allen anderen auch.
Euer Untertitel lautet ja. „Die letzten Dinge regeln“. Regeln kann man, glaube ich, nur die vorletzten Dinge: Seine Millionen verteilen und alles Bürokratische erledigen, um den Hinterbliebenen all die Behördengänge zu ersparen. Alles Unwesentliche regeln!

– Was unser Wesen betrifft, können wir uns nur überraschen lassen.

Und das gönnen wir uns doch spätestens angesichts des Todes: ohne Leistungsdruck zu sein, keinem mehr etwas beweisen zu müssen…..wie loslassen können, erfüllt und voller Freude, in tiefer Meditation und gesegnet sein,……. Welche Erleichterung!

 

Frage: Was heißt das für die medizinische Versorgung am Lebensende? Würdest Du es begrüßen, wenn auch in Deutschland – wie etwa in den Niederlanden – aktive Sterbehilfe erlaubt wäre?

Dr. Schmale: Eindeutig: Nein!
Unsere Regelungswut geht bis zum letzten Atemzug: „In diesem oder jenem Fall soll dies oder jenes geschehen!“ Ich sage meinen Patienten immer: „Hört auf damit! Lasst das dahingestellt und sucht euch jemanden aus, dem ihr vertraut und der euch begleitet. Und für den Fall, dass ihr nicht mehr selber entscheiden könnt, übertragt dieser Person die Verantwortung dafür, alles Nötige so zu tun, wie ihr es euch vermutlich wünschen würdet und die euch vor einer Übertherapie bewahrt, die schlimmstenfalls in rein finanziellen Interessen der Behandler begründet ist.“
Ich habe meine Mutter in ihren letzten drei Jahren begleiten dürfen. Mit 92 bedurfte sie der permanenten Pflege; von da an war sie drei Jahre lang bettlägerig und musste rund um die Uhr gepflegt werden; am Ende bestand ihr Körper nur noch aus Haut und Knochen und ihr Gedächtnis war schwach und unzuverlässig.
Ein naher Verwandter, der sie einmalig sah, entsetzte sich bei ihrem Anblick: „Das ist doch nicht mehr lebenswert!“ Ich hab noch im Ohr, wie überzeugt seine Stimme klang und fühle heute noch, wie schockiert ich darüber war.
Meine Mutter hatte mich einige Wochen vorher in einem stillen Augenblick plötzlich unsicher fragend angeschaut und gesagt: „Eigentlich müsste ich jetzt sterben…“ „Nein!“ erwiderte ich. „Denn ich vermute, du meinst sterben zu müssen, um das Geld für die Pflege zu sparen, aber glaub mir: Wir haben genug Geld – wir schwimmen im Geld! Und etwas Besseres könnten wir damit gar nicht anfangen.“
Das war zwar geflunkert, aber es hat meine Mutter unglaublich beruhigt. Sie sah mich prüfend an und sagte mit fester bestimmter Stimme: „Ich bleibe!“ Sie wollte nämlich noch gar nicht sterben.
Sie wurde liebevoll und einfühlsam gepflegt und hat die Zuwendung, die ihr von allen Seiten zufloß, freudig angenommen. Ihre Todesangst konnte sich schrittweise auflösen. Es hat halt etwas gedauert. Aber die Zeitspanne war offensichtlich notwendig. Und am Ende ist sie dann ganz friedlich zu Hause eingeschlafen.

 

Frage: Deine Mutter wollte ja bleiben… Was aber ist mit einem Patienten, der alle Therapien satt hat und einfach nicht länger leiden will?

Dr. Schmale: Für diese Situation hat es seit jeher Lösungen gegeben. So etwas braucht man nicht im Voraus zu regeln. Eine Legalisierung könnte dem Missbrauch Tür und Tor öffnen. Unsere Gesellschaft mit ihrem absoluten Primat der Ökonomie ist, finde ich, einfach noch nicht so weit, das vernünftig zu handhaben. Und uns kann nichts Schlimmeres passieren, als dass Kranke sich schuldig fühlen, weil sie der Gesellschaft auf der Tasche liegen – so etwas ist für mich einfach unmenschlich! Abgesehen davon ist das, was unsere Gesellschaft als lebenswert betrachtet, äußerst fragwürdig: Die Leute sagen: „Was wollen wir mehr als gut essen, trinken, schöne Reisen machen, und möglichst viel Sex, viel Spaß und viel Geld haben… Und wenn das alles nicht mehr möglich ist, dann lohnt sich das Leben nicht mehr!“ Und das Fazit davon sind fragwürdige Vorstellungen vom Umgang mit dem Tod!
Die ärztliche Aufgabe ist es, Leben zu erhalten und Leid zu mindern. Und wenn das Leid unerträglich scheint und nicht zu lindern ist, bietet die Schmerztherapie mit Morphinen ausreichend Gestaltungsmöglichkeiten zur Verkürzung der Leidenszeit. Wozu also noch ein formales Regelwerk!

 

Frage: Was wünschst Du dir für dein Sterben?

Dr. Schmale: Ich wünsche mir, dass ich der Begegnung mit der W i r k – lichkeit nicht im Wege stehen werde.