Der Arzt kuriert, die Existenz heilt

„Was ermöglicht Heilung?“, wollten wir von Dr. Schmale wissen, der seit über 35 Jahren als Arzt und Spezialist für TCM (Traditionelle Chinesische Medizin) tätig ist. Er verfügt über ein breit gefächertes Spektrum an Heilmethoden – u.a. Akupunktur, Kräutertherapie und Naturheilverfahren. Vor allem auf zwei Aspekte legt Dr. Schmale im Laufe unseres Gesprächs großen Wert: Zum Einen müsse man die Sprache des Körpers verstehen lernen; denn diese enthülle nach und nach die eigentliche Natur der Erkrankung – um sie ihrer Natur entsprechend behandeln zu können: Das bedeute für ihn „Naturheilkunde“! Zweitens sei es aber noch wichtiger, Krankheit nicht als Schuld oder gar als „gerechte Strafe“ zu begreifen. „Solange man Krankheit als Bestrafung von Schuld erlebe, werde jeder klare, neugierige Blick auf ihre eventuelle Ursache verstellt. Schuldgefühle vereiteln jegliche Erkenntnis. Und: Wie kann einer, der schuldbewusst ist, sein Schicksal, krank zu sein, erhobenen Hauptes tragen?“
Dazu zitiert Dr. Schmale folgenden Aphorismus von Theodor Storm:

„Vom Unglück erst
zieh ab die Schuld
was übrig ist
trag in Geduld!“

 

Frage: Du bist Arzt. Siehst du dich auch als Heiler?

Dr. Schmale:
Nein, aber ich bin mit Leidenschaft Arzt! Vor meinem Medizinstudium hatte ich bereits Pharmazie studiert, weil in mir der Wunsch sehr stark war, Menschen zu helfen. Damals sah ich in den Erfolgen der pharmazeutischen Industrie das Potenzial, das Leid ‚auszurotten’. Je intensiver ich mich aber mit der Materie vertraut machte, umso klarer erkannte ich, wie oberflächlich unser Krankheitsverständnis meist ist. Bald verspürte ich den Wunsch und die Notwendigkeit, die tieferen Ursachen der jeweiligen Krankheit kennenzulernen. Das hat dazu geführt, dass ich bereits seit über 35 Jahren ein Arzt bin, der in nie versiegender Neugier dazu gelernt und sich dabei auch das entsprechende Handwerkszeug angeeignet hat.

 

Deinem Ausgangspunkt, dass du Menschen helfen willst, bist du also bis heute treu geblieben?

Ja. Gleichzeitig habe ich allerdings auch immer wieder meine Rolle als Arzt hinterfragt. Kurz bevor ich 1979 die Approbation als Arzt erhielt, erschien das Buch „Die hilflosen Helfer“ von Schmidtbauer. Das brachte mich auf die naheliegende Frage: Will ich nur deswegen helfen, um mir Zuneigung, Dankbarkeit und Liebe zu verschaffen? Kurzentschlossen habe ich dann erst einmal eine Verschnaufpause eingelegt – und just in derselben Zeit fand meine Begegnung mit Osho statt. Du weißt so gut wie ich, dass uns unser Meister mit allen erdenklichen Mitteln immer und immer wieder gerade mit diesem Thema existentiell konfrontiert hat.
Ein paar Jahre später – ich war damals gerade bei Poonjaji, einem erleuchteten Meister und Schüler von Ramana Maharshi – tauchte eine weitere Frage auf. Eines Tages lud er mich zum Mittagessen ein. Ich sagte zu ihm: „Ich habe bei meiner Arbeit ständig das Gefühl, die Leute wollen von mir wissen, aus welchen psychologischen Gründen heraus sie krank geworden sind und was sie im Leben falsch gemacht haben. Ich mag diese Rolle nicht und möchte meinen Mitmenschen nicht die Freiheit nehmen, ihr Leben selbst zu gestalten, auch wenn es dann äußerst ungewöhnlich erscheint, ……..“
Er antwortete, er begreife gar nicht, was ich eigentlich meine. Also versuchte ich, es ihm zu verdeutlichen. Doch wieder sagte er kopfschüttelnd: „I don´t know what you mean! (Ich versteh kein Wort!)“ – und lenkte mich auf einmal mit der Bemerkung ab, seine Haushälterin habe so einen eigenartigen Hautauschlag: Ob ich da nicht etwas machen könne? Also gab ich ihm eine Empfehlung. Er erwiderte: „Oh ja, gute Idee! Und noch was: Ich habe in letzter Zeit so starke Kopfschmerzen. Kannst du da nicht auch etwas machen?“ Ich hatte damals immer einen Suchstift für Akupunkturpunkte dabei; also setzte ich mich auf den Küchentisch und begann, auf seinem glattrasierten riesigen Schädel bestimmte Punkte zu massieren. Nach der Behandlung strahlte er mich an und meinte, die Kopfschmerzen hätten schon deutlich nachgelassen. Und dann schaute er mich lächelnd an und fragte: „Isn´t it nice to take away somebody’s pain?! (Ist es nicht ein schönes Gefühl, jemanden von seinen Schmerzen zu befreien?“)
Was für ein Zen-Meister! Ich hatte eine wunderbar einfache Antwort auf meine Frage bekommen. Seither arbeite ich tagaus tagein und genieße meine Tätigkeit!

 

Du sprachst von den vielen Heiltechniken, die du erlernt hast – wie wichtig sind sie, um Deinen Patienten zu helfen?

Medizinische Kompetenz ist eminent wichtig – aber nicht nur. Ich sehe da eine Parallele zu den verschiedenen Meditationstechniken. Wir wissen inzwischen: Meditation und Meditationstechnik sind zweierlei. Doch die Technik kann uns helfen, Meditation zu erfahren. Dann kann sich ein absolut stiller und zeitloser Raum auftun – in dem es weder Geburt noch Tod gibt. Und aus diesem Raum heraus ist auch Heilung möglich. Ich habe also nach Mitteln und Wegen gesucht, wie sich dieser Raum erschließen kann, auf dass Heilung geschieht – und wurde eher bei den regulierenden Therapiemethoden fündig. Was das bedeutet, wird sicherlich gleich deutlich. Meiner Einschätzung und Erfahrung nach sind die schulmedizinischen Methoden meist blockierende Anti-Therapien, die eher verschließen. Ich bin mir aber immer durchaus bewusst, dass ich nicht derjenige bin, der heilt, sondern nur, indem ich meinen Teil fachliches Können einbringe, dabei assistiere. Medicus curat, natura sanat (Der Arzt kuriert, die Existenz heilt), wusste man bereits in der Antike.

 

Du assistierst, aber der Patient muss selber den Raum finden?

Dieses „muss“ versuche ich als Erstes aus dem Weg zu räumen! Ein „du musst oder sollst!“ kann immensen Druck erzeugen. Mal ganz abgesehen davon, dass der Patient, wenn er dazu selbst in der Lage wäre, ja nicht vor mir säße! Vor allem das Schuldgefühl, das viele Patienten bedrückt, verhindert das aber: Sie machen sich Vorwürfe und glauben, etwas falsch gemacht zu haben, wenn nicht gar, dass ihre Krankheit die Strafe Gottes für ihre Verfehlungen sei. Solche antiquierten Vorstellungen spielen nach wie vor eine große Rolle. Also muss ich mir etwas einfallen lassen, um dem Patienten zu erklären, dass seine Erkrankung auch andere Gründe haben kann als Schuld. Wenn mir das gelingt, fällt den Patienten meist ein riesiger Stein vom Herzen. Das führt dann zur Akzeptanz, die wiederum seine seelische Aufgewühltheit glättet – und den Patienten zutiefst beruhigen kann. Diese „Stille nach dem Sturm“ hat etwas von einer Wesenheit, die sein Inneres betritt.
Mir ist folgendes wichtig: Es kommt nicht darauf an, den Patienten mit allen möglichen Beruhigungsmitteln „ruhig zu stellen“, sondern darauf, ihn dazu zu bewegen, Stille zuzulassen. Wenn man ihn ermuntert zu akzeptieren, tut sich wie von selber ein Raum auf, in den die Stille von sich aus eintreten kann. Sie hört auf kein Kommando, man kann sie nicht zwingen.
Oft wird das verwechselt: Mit Valium z. B. wird der Patient „ruhiggestellt“. Nur schneidet man damit seine Gefühle vom Sein ab. Die Stille, von der ich hier spreche, ist schließlich keine Friedhofsstille, sie ist keine Abwesenheit von Lärm. Die Natur ist manchmal durchaus voller ’Lärm’, und dennoch spüren wir ihre Stille. Und ihre Stille ist alles andere als leer, vielmehr erfüllt vom Atem Gottes.

 

Lass uns mal ein Beispiel nehmen: Ein Patient hat soeben erfahren, dass er Krebs hat ­– und jetzt sitzt er vor Dir. Natürlich steht er unter Schock und ist wie vor den Kopf gestoßen. Wo soll da so eine Stille herkommen?

Nun, ich kann zunächst versuchen, ihm Therapiemöglichkeiten aufzuzeigen, und mit dem Patienten darüber sprechen, welche Behandlung bei ihm an ehesten anschlagen könnte. Und wenn mir selbst dafür das Spezialwissen fehlt, sorge ich dafür, dass der Patient in die bestmöglichen Hände gelangt, wo er meiner Meinung nach die beste Behandlung bekommt. Gerade bei Krebserkrankungen ziehe ich gerne erfahrenere Spezialisten zu Rat, und trete als begleitender Kollege und Vertrauensarzt des Patienten in den Hintergrund.
Aber gerade bei der Krebserkrankung ist es geboten, etwaige Schuldgefühle aufzulösen. Das Schlimme ist ja, dass die heutige Psychologie und Esoterik eine Art neuen Katholizismus gezeitigt hat, nach dem Motto: „Ich bin nur deswegen krank geworden, weil ich falsch gelebt habe!“ Viele sagen in Anlehnung an Thorwald Detlefsen: „Die Krankheit ist dein Schatten – das, was du nicht gelebt hast.“ Wenn Patienten mit solchen esoterischen Ideen kommen, erinnere ich sie gerne daran, wie viele erleuchtete Meister – etwa Ramana Maharshi oder Ramakrishna ­– an Krebs gestorben sind. Im Übrigen kenne ich auch keinen Erleuchteten, der so ein Konzept „gesunder Geist – gesunder Körper“ gepredigt hat. Ich halte das für kompletten Unfug! Man sehe sich Stephen Hawkings an, dessen Körper ausgesprochen marode ist, der sich aber geistig von der Last dieses Körpers praktisch befreit hat! Ich kenne Photos von Hawkings, wo er eine immense Freude ausstrahlt. Mich hat das sehr beeindruckt und berührt.
Gegen den Buchtitel „Krankheit als Weg“ habe ich nichts einzuwenden. Denn die Existenz verfällt auf die unglaublichsten Strategien, um uns auf den Weg des Bewusstseins zu bringen. Allerdings bekommt der Leser seines Buchs zwangsläufig den Eindruck, dass viele andauernd etwas falsch machen und dann als Quittung für ihr jeweiliges Fehlverhalten krank werden.

 

Welche Rolle spielt beim Heilungsprozess das Verhältnis zwischen Arzt und Patient?

Eine ganz entscheidende, finde ich! Sobald der Patient spürt, dass er jemanden vor sich hat, der weiß, wovon er spricht und die nötige Kompetenz besitzt, kann er sich entspannen. Erst recht, wenn er gleichzeitig merkt, dass ihm dieser Arzt nicht unterschwellig zu verstehen gibt, sein Leiden eigentlich selber verschuldet zu haben.
Oft sagen mir Patienten, sie seien sich vorher in anderen Arztpraxen oder Kliniken wie eine Nummer vorgekommen, wie ein nur noch auf ihre Krankheit reduzierter Fall. „Hat mich der Arzt überhaupt mal angeguckt?“, hätten sie sich danach gefragt.
Es gehört unbedingt zum Heilungsprozess dazu, dass sich der Patient persönlich gesehen fühlt. Seine Krankheit beruht meist auf einem Gemisch individueller Ursachen und ist daher auch nur auf individueller Ebene behandelbar. Deswegen hat für mich auch die Therapie einzigartig zu sein, obwohl es natürlich Gemeinsamkeiten mit anderen Patienten mit ähnlichen Erkrankungen gibt. Da ich die Befindlichkeiten der Patienten zu deuten vermag, weiß ich sie einzuordnen. Ich höre also nicht nur aus Respekt vor dem Patienten aufmerksam zu oder weil ich als aufmerksamer Zuhörer gelten möchte. Was meine Patienten äußern, ist fast immer wegweisend für den nächsten Therapieschritt. Erweisen sich die Auswirkungen einer solchen aus dem Dialog entstandenen Strategie als erfolgreich, so entsteht auch ein fruchtbares freundschaftliches Miteinander. Das gilt vor allem für die Behandlung mit chinesischen Kräutern. Dort gibt die Gesamtheit der Symptome und Befindlichkeiten, ergänzt durch die Puls- und Zungendiagnose sowie die schulmedizinischen Befunde, den Ausschlag für die Wahl einer angemessenen Strategie.

 

Vorausgesetzt, dass der Patient sich auf seine Körperwahrnehmung zu verlassen vermag…?

Absolut – das ist möglicherweise sogar das Wichtigste überhaupt. Leider ist es ja mittlerweile häufig so, dass die Schulmeinungen der westlichen Medizin den Patienten vielmehr seiner Selbstwahrnehmung entfremden. Beispiel Erkältung: Dem Patienten wird eingeredet, es gäbe gar keine „Erkältung“, sondern die Ursache seien Viren oder Bakterien. Der Patient bemerkt aber das Gegenteil: Ihm wird fast immer zunächst kalt, bevor die Symptome aufgetreten sind. Heutzutage wird uns permanent eingeredet, dies sei eine mittelalterliche Vorstellung – unsere Körperwahrnehmung mag noch so sehr wider-sprechen. Deswegen ermutige ich die Patienten, ihrer Körperwahrnehmung zu trauen und sich lieber auf ihren Körper zu verlassen. Ich versuche, meinen Patienten von Anfang an klarzumachen, dass der Körper unser Allerheiligstes ist – der Tempel, in dem wir uns aufhalten. Und dass es keineswegs egoistisch ist, uns um unsern Körper zu kümmern, sondern dass wir vielmehr Gast unseres Körpers sind. Viele Patienten können sich ja wunderbar um andere Menschen kümmern, aber nicht um sich selbst, weil sie das für Selbstsucht halten. Auf den Hinweis hin, sie seien ja nicht ihr Körper, können sie sich plötzlich viel besser um sich selbst kümmern. Und im Laufe der Zeit stellen sie dann erleichtert fest, dass die Signale, die ihnen ihr Körper sendet, für den Arzt wirklich aufschlussreich sind. Denn er vermag die Sprache des Körpers zu übersetzen – und diese Kunst können sie nun mit seiner Hilfe auch selbst erlernen…
Bleiben wir bei dem Beispiel der Erkältung: Wenn zu viel Kälte in die Bronchien eindringt, versucht der Körper, diese „Kältung“ durch „Wärmung“ wieder auszugleichen. Und wenn dies nicht gelingt und die Wärme die zu kalt gewordenen Bronchien nicht zu durchdringen vermag, entsteht an der Grenze zwischen Warm und Kalt Hitze. Der Schleim wird hitzig-gelb. Unterbrechen wir diese Reaktion dann mit fiebersenkenden Mitteln, vereiteln wir den körpereigenen Heilungsversuch, weil wir ihn fälschlicher Weise für die Erkrankung halten. Die Erkrankung liegt aber bereits in der anfänglichen Kältung. Die ärztliche Kunst besteht darin, den natürlichen Heilprozess des Körpers zu unterstützen – und zwar indem ich, statt die Reaktion mit z.B. fiebersenkenden oder Schleimhaut abschwellenden Medikamenten zu unterbinden, ihn im Gegenteil zum Erfolg führe. Mit anderen Worten: indem ich dem Körper helfe, die Bronchien tatsächlich zu erwärmen.
Inzwischen bin ich überzeugt, dass die meisten Erkrankungen Heilreaktionen sind, die zum Erfolg geführt werden müssen, damit es zur Ausheilung kommen kann. Und so verstehen die Patienten auch, dass der Körper nicht spinnt, dass das kein Fehlverhalten ist, sondern dass er eigentlich nur ständig versucht, den gesunden Zustand, das Gleichgewicht wieder-herzustellen.
Dann kann es passieren, dass dem Patienten trotz heftigster Symptome plötzlich aufgeht, dass da irgendwas richtig läuft. Und wenn nicht, spürt er’s natürlich irgendwie schon. Deswegen sage ich meinen Patienten auch immer: „Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas irritiert! Dann müssen wir halt nochmal hingucken…“ Ich ermutige sie also möglichst, wirklich auf ihren Körper zu hören und ihn ernst zu nehmen. Und heitere sie dann noch mit der Bemerkung auf: „Wir wollen hier niemanden zum Hypochonder machen!“