Leichtekraft

Die Wiederentdeckung der Leichtekraft oder die Leichtigkeit des Seins

Galileo Galilei hatte am schiefen Turm zu Pisa frei fallende Körper (womit die Physiker hoffentlich Gegenstände meinen) studiert und Folgendes herausgefunden: Sie alle fallen unabhängig von ihrer Größe mit der gleichen Geschwindigkeit von 9,81 Metern pro Sekunde. Damit hatte er indirekt die Kraft gemessen, mit der die Erde Gegenstände anzieht, nämlich die so genannte Schwer- oder Gravitationskraft.
Bis zu dieser Zeit ging man in Wissenschaft, Kunst und Religion wie selbstverständlich davon aus, dass neben der Schwerkraft auch eine Leichtekraft existiert. Die Welt in Polaritäten zu erfassen war nie nur das Privileg der Chinesen gewesen mit ihrem Yin und Yang.

Zwischen 1657 und 1667 gab die Accademia del Cimenta in Florenz die Veröffentlichung ‚Contra Levitatem’ (Gegen die Leichte) heraus. Sie argumentierte: Die Schwerkraft sei jetzt messbar. Nur das Messbare sei erfahrbar und echte reine Wissenschaft dürfe sich nur auf das in diesem Sinne Erfahrbare beziehen. Sie rief die Naturwissenschaften dazu auf von nun an bei der Erklärung von Naturphänomenen nicht mehr von einer Leichtekraft auszugehen, sondern nur noch die Schwerkraft zur Erklärung heranzuziehen.
Die Wissenschaftler folgten dieser Aufforderung. Die Leichtekraft wurde zumindest innerhalb der Wissenschaft abgeschafft.

Natürlich existiert sie weiter. Vor allem in den subjektiven Erfahrungen der Menschen. Es begann eine Entwicklung, in der die Menschen ihre persönlichen Wahrnehmungen immer weniger in den wissenschaftlichen Theorien gespiegelt fanden. So entwickelte sich im Laufe der Zeit in vielen Menschen das Gefühl, fremd auf dieser Erde zu sein.

Wo finden wir denn nun diese Leichtekraft? Schauen wir uns einige alltägliche Situationen daraufhin an.
Ab und an schleppe ich Säcke mit 70 kg Blumenerde 99 Stufen zu unseren Pflanzen hoch. Von Stufe zu Stufe spüre ich diese 70kg immer mehr. Noch nie habe ich auch nur annähernd das Gefühl gehabt, meinen gleichschweren Körper die Treppen mit ähnlicher Anstrengung hochzuschleppen. Ganz im Gegenteil: Manchmal nehme ich zwei Stufen auf einmal, weil ich mich so beschwingt fühle.
Da ist sie, diese Leichtekraft.
Sie ist eine Kraft, die sich mit Vorliebe mit Lebendigem verbindet. Sie lässt uns unsere Körper fühlbar leicht erscheinen. Schauen wir die Kinder an. Sie hüpfen und springen mit einer Leichtigkeit, die ansteckend zu uns herüberschwappen kann: So überfließend kann diese Kraft in ihnen präsent sein.
Jeder kennt das Gefühl, wie der Körper ohne Anstrengung aufrecht und gerade steht, aber auch, wenn der Brustkorb einsinkt, der Kopf schwer wird und die Augen nur noch den Boden fixieren.
Die Leichtekraft mag offensichtlich Freude und hilft Freude zu verbreiten.

Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich an einem Tisch. Ich mache eine Pause und schaue ins Kaminfeuer. Das venöse Blut strömt zum Herzen zurück, obwohl das Herz ja bekanntermaßen zwar in die Hose rutschen kann, aber sicherlich nicht in den Füßen sitzt. Wie kann der Rückfluss des Blutes dennoch passieren?
Im Medizinstudium lernen wir, dass dies dank der sich bewegenden Muskeln passiert und sprechen von der Muskelpumpe. Nur habe ich überhaupt keinen Muskel bewegt, sondern sitze hier und träume schon seit 20 Minuten. Dazu habe ich auch noch die Beine übereinander geschlagen und mache es dem venösen Blut dadurch sicher nicht leichter.
Es ist die Leichtekraft, die das venöse Blut wieder dem Herzen zuführt. Ist die Blutqualität allerdings nicht mehr gut, mag diese Kraft nicht in dieses Blut eintauchen. Das Blut stagniert und es kommt zu venösen Stauungen wie Krampfadern oder Hämorrhoiden. Im Mittelalter ließ man zur Ader, in der Hoffnung, dass die Leichtekräfte sich wieder mit dem verdünnten und damit saubereren Blut verbinden (der Körper ersetzt das abgelassene Blut durch Gewebswasser) und es damit wieder in Gang setzen.
Eine meiner Hauptstrategien in der Handhabung der chinesischen Kräuter besteht darin, das Blut zu säubern und damit wieder den Lebenskräften und der Leichtekraft zugängig zu machen.

Da haben wir eine opulente Weihnachtsmahlzeit genossen und leider das Gefühl, dass uns nun das Gewicht der Mahlzeit wie ein Stein im Bauch liegt. Ein anderes Mal wiegt die Mahlzeit ähnlich viel, doch der Bauch fühlt sich leicht an. Es sieht so aus, als könnten wir die Leichtekraft einladen und erhalten, indem wir kluge Spielregeln einhalten. Die Chinesen essen gerne und viel und haben deshalb detailliert solche Regeln ausgearbeitet. Es lohnt sich, in diesem Punkt von ihnen zu lernen.

Wir springen beherzt ins Wasser und lassen uns treiben. Aber wir wundern uns nicht mehr, dass das Wasser uns trägt. Denn wir haben ja im Physikunterricht gelernt, dass es den Auftrieb des Wassers gibt, den wir nach dem Prinzip des Archimedes sogar ausrechnen können. Nur: Wo hat der Auftrieb seine Kraft her? Er ist Ausdruck dieser Leichtekraft.

Wir gehen durch die Natur und stehen nicht sprachlos darüber da, dass die Pflanzen im Frühling wieder aus der Erde lugen und mit Leichtigkeit über die Schwerkraft hinweg zu sprießen beginnen. Zarte Pflänzchen vermögen betonierte Straßen zu durchbrechen. Fast die gesamte Flora scheint der Sonne entgegen gen Himmel streben zu wollen. Die Biologen nennen dies Unglaubliche Heliotropismus (durch die Sonne hervorgerufene Bewegung) und lehnen sich zufrieden über ihre Wortschöpfung zurück.

Da stehen wir in einem Buchenwald mit majestätisch hohen Bäumen und staunen nicht mehr, wie das Wasser zu den Blättern gelangt. Biologen meinen in Saug- und Kapillarkräften die Erklärung gefunden zu haben. Physiker haben ausgerechnet, dass diese Erklärungen nicht annähernd ausreichen. Es ist die Leichtekraft, die unbemerkt dieses Werk verrichtet.

Ich bleibe im Wald und in den Parks oft mit Ehrfurcht vor Bäumen stehen, die so dickstämmige lange Verzweigungen haben, dass diese nach den Hebelgesetzen entweder abbrechen oder den Baum aus der Erde reißen müssten.
Manchmal stehen die Bäume in ihrem Hauptstamm so geneigt, so überdeutlich allen Gesetzen der Physik und Mechanik widersprechend, dass es mir so scheint, als wolle die Leichtekraft uns zurufen:
Seht ihr mich nicht?
Schaut doch nur!
Lasst euch doch nicht mehr erzählen, es gäbe mich nicht!
Ich bin es doch, die Leichtigkeit des Seins.
Verbündet euch wieder mit mir und tanzt mit mir durch die Existenz.